Walsers philosophischer Spaziergang

Warum war und ist Robert Walser

so wichtig für mich ?

von Giorgio Agamben

 

Ich glaube, daß das, was ich in seinem Werk sehe, so etwas wie ein Experiment ist, ein sehr besonderes Experiment, – einfach: ein Experiment.

Giorgio Agamben, Philosoph, Venedig, Kurzvortrag, übersetzt von Andreas Hiepko,
auf der Podiumsdiskussion Robert Walser: Unter Menschen, die einander achten, möchte ich leben. 
Begleitprogramm zur Inszenierung, Akademie der Künste, Berlin, am 17. April 2005

 

Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Literatur und im philosophischen Denken gibt es Experimente. Diese Experimente betreffen nicht wie im Fall der wissenschaftlichen Experimente die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Hypothese, sondern stellen das menschliche Dasein in Frage. Sie vollziehen eine anthropologische Verwandlung des menschlichen Daseins. Und derjenige, der diese Experimente durchführt, riskiert nicht so sehr die Wahrheit seiner eigenen Aussagen als vielmehr die Art und Weise seines Daseins. Er vollzieht so etwas wie eine anthropologische Mutation, die auf ihre Art ebenso entscheidend ist, wie einst die Befreiung der Hand für die Primaten oder die Umformung der verlorenen Gliedmaßen für die Reptilien, die sie in Vögel verwandelte.

Um welche Verwandlung geht es bei Walser?


Walser beschreibt wie Kafka Formen und Gestalten des Daseins, die nicht mehr menschlich sind, aber auch nicht mehr göttlich oder tierisch. Das Experiment, das Walser durchführt, ist dabei ebenso wichtig und neu, wie das Experiment, das Heidegger in Sein und Zeit machte, indem er das psychosomatische Ich durch ein leeres und wesenloses Sein ersetzte, das nichts anderes ist und darstellt als seine Seinsweise selbst und das eine Möglichkeit nur im Unmöglichen hat.

In diesem Sinn ist Walser, wie Kafka, ein Theologe, wenn Theologie der Ort ist, wo neue menschliche Gestalten erprobt werden.

In meinem Buch Die kommende Gemeinschaft habe ich Walsers Gestalten mit den Kreaturen verglichen, die im Limbus wohnen. Dem Theologen zufolge, kann die Strafe der ungetauften Kinder, die ohne jede Schuld gestorben sind, keine qualvolle Strafe sein; sie besteht lediglich in der Vorenthaltung der Anschauung Gottes. Da diese Geschöpfe aber nur eine natürliche und keine übernatürliche Erkenntnis haben, wissen sie nicht, daß sie des Höchsten Gutes beraubt worden sind. Die schlimmste Strafe – der Entzug der Anschauung Gottes – verkehrt sich für die Bewohner der Vorhölle so in einen Zustand natürlicher Fröhlichkeit.

Diese vorhöllische Fröhlichkeit ist das Geheimnis von Walsers Geschöpfen. Sie leben jenseits von Verdammnis und Heil. Sie kennen weder Mensch noch Gott, weder Gesetz noch Schicksal. Auf immer verloren, verweilen sie schmerzlos in ihrer Gottverlassenheit.

Aber ich möchte noch ein weiteres Beispiel anführen. Nehmen Sie die Gestalten aus Walsers Roman Der Gehülfe, die auch bei Kafka erscheinen und für Walsers Welt so wichtig sind. Bei Kafka sind die Gehilfen Mittelwesen zwischen Engeln und Beamten. Angelologie und Bürokratie sind bei Kafka ein und dasselbe. Bei Walser aber haben die Gehilfen eine messianische Bedeutung.

Der grosse Sufi-Denker Ibn-al-Arabi kennt Gestalten, die er Gehilfen des Messias nennt oder arabisch Wuzara, der Plural von Wazir (Wesir). Die Wuzara oder Gehilfen sind Menschen, die in der profanen Zeit schon die Kennzeichen der messianischen Zeit an sich haben, schon dem letzten Tag angehören. Sie sind Übersetzer der Sprache Gottes in die Sprache der Menschen. Merkwürdige Wesen, werden sie unter den Nichtarabern ausgesucht, sind Fremde unter den Arabern und schwer zu erkennen, fast unscheinbar.

Die Vorstellung, das Reich sei in der profanen Zeit nur in zwielichtigen und unscheinbaren Formen gegenwärtig, daß die Elemente des Endzustands sich in dem verstecken, was heute schändlich und lächerlich erscheint, ist ein tiefes messianisches Thema und auch ein tiefes Thema von Walsers theologischer Lehre.

Walsers Gehilfen scheinen keine Hilfe geben zu können. Sie sind Mitarbeiter an einem vollkommen überflüssigen Werk. Wenn sie studieren, dann tun sie es, um eine kugelrunde Null zu werden. Und warum sollten sie sich an dem beteiligen, was die Welt für ernst hält, wenn es doch in Wahrheit nur Wahnsinn ist?

Da gehen sie lieber spazieren.

In den Werken Spinozas gibt es nur eine einzige Stelle, an der er sich der Muttersprache der sephardischen Juden bedient…. Es handelt sich um eine Passage, in der Spinoza die Bedeutung der immanenten Ursache erklärt, das heißt einer Handlung, die sich auf den Handelnden selbst bezieht, in der aktiv und passiv ein und dieselbe Person sind. Um ein Beispiel für diesen sehr wichtigen Begriff zu finden, sieht sich Spinoza gezwungen, auf seine Muttersprache zurückzugreifen. Spazierengehen heißt in jenem Spanisch, das die Sepharden sprechen, pasearse – sich-promenieren, also den Spaziergang begreifen als ein Sich-spazieren-führen, ein Sich-gehen-lassen.

In diesem Sinn ist der Spaziergang Robert Walsers ein Mittelwesen zwischen Tun und Nichttun, Aktivität und Passivität, Sein und Nicht-Sein. Der Spaziergang ist das messianische Paradigma, das Walsers Kreaturen der Menschheit als Erbe hinterlassen.

Giorgio Agamben, Philosoph, Venedig
Akademie der Künste, Berlin, am 17. April 2005