Mikrogramme, Robert Walsers Politik der Poesie
Walsers neue Schreibmethode, die das Kleinwerden bevorzugt, ein Schutzraum und eine Politik der Poesie – angesichts eines
sich aufbäumden
Totalitarismus
von Simone Bernet
In den Zwanzigern und anfangs der Dreißiger Jahre führt Robert Walser in Bern ein zurückgezogenes Leben als Feuilletonist im „Prosastückligeschäft“, wie er es nennt. Er schreibt für Zeitungen, Zeitschriften, für solche in Berlin oder Prag. Er hat aufgehört, am literarischen Erfolg festzuhalten.
Als einstiger Kopist in Schreibstuben beherrscht Walser diverse Schreibstile perfekt. Den Schriftstellerberuf identifiziert er gewissermaßen mit dem Schönschreiben. Von den Verlagen erfährt er inzwischen nur mehr Ablehnung.
Aber er schreibt weiterhin unentwegt, allerdings in einer Art, die auf sonderliche Weise seinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben wiederspiegelt: Die literarischen Arbeiten entstehen mit spitzem Bleistift und in mit bloßem Auge unlesbarer Miniaturschrift. Es war eine „Zeit der Zerrüttung“, schreibt er, „die sich gleichsam in der Handschrift, im Auflösen derselben abspielte“.
Mit seiner neuen Schreibmethode, die er von nun an bis zu seinem Lebensende beibehielt, die das Heimliche und Geheime bevorzugt, entstehen auf kleinstem Raum eine enorme Anzahl von Texten. Die verkleinerte Süterlinhandschrift überwuchert Papierfetzen in dichten Graphitspuren und bis eng an ihre Kanten.
Schlankweg gebe ich zu, dass ich’s
nicht übers Herz brachte, mir
zu verbieten, bis zu gewissen
Grenzen zu bummeln.
Einen Teil dieser wundersamen Bildchen „übersetzt“ der Autor Robert Walser nachträglich in ein normales Schriftbild, mit Tinte und Feder für potentielle Leser. Eine qualvolle Fleißarbeit. Sie überanstrengt Augen und Gedächtnis. Es ist der Weg zurück zum Leser. Mit den Jahren hingegen perfektioniert Walser seinen kleiner werdenden Schreibstil mit dem Bleistift, ihn verdichtend. Wobei die Buchstaben noch unsichtbarer werden und selbst ihm sich dem Abschreiben in den Weite und Tiefen des Mikroskopischen entziehen. Walsers Meisterstücke verewigen sich auf abwegigen Schriftstücken, überschreibend, sein Unbewusstes zufügend.
Ein Grossteil der Bleistiftminiaturen bleibt von ihm daher unübersetzt. Ihre Existenz wirkt auf die Um- und Nachwelt derart rätselhaft, dass es einiger Umwege bedurfte bis die darin versteckten Zeugnisse der Walserschen Fabulierlust und sprachlichen Präzision entdeckt werden konnten. Die Schuhschachtel, welche die Schwester Lisa dem Vormund und späteren Nachlassverwalter Walsers, Carl Seelig, überreicht hat, machte einen eher unnützen Eindruck. Ihr Inhalt bestand allerdings aus einem nur scheinbar kümmerlichen Vermächtnis: Von Robert Walser bekritzelte kleinge-schnittene, oft bereits bedruckte Papierabfälle, alte Postkarten, Briefumschläge aus dem privaten und geschäftlichen Postverkehr – die sogenannten Mikrogramme.
Lange nach Walsers Tod kam es in den 70-er Jahren zu den ersten Entzifferungen der „Mikrogramme“ durch Jochen Greven, dem Herausgeber der Gesamtwerksausgabe. Ein Jahrzehnt später führten Bernhard Echte und Werner Morlang in Zürich mit starken Lupen und viel detektivischem Gespür das Entzifferungsprojekt über viele Jahre fort. Das Zürcher Robert Walser-Archiv publizierte 2000 unter dem Titel „Aus dem Bleistiftgebiet“ die Gesamtausgabe der Mikrogramme. Darin sind neue, bislang unbekannte Texte Robert Walsers enthalten, auch Gedichte und dramatische Szenen. Sie finden im „Kleinen Welttheater“ zur Uraufführung.
Die Mikrogramme verkörpern und verwirklichen eine für Robert Walser typische Lebensweise des Sich-Klein-Machens, des Verkleidens oder der spielerischen Maskerade. Sie offenbaren eine bezaubernde poetische Landschaft, erschrieben mit empfindlicher Gefühlsschärfe und gelöstem Humor, dem Unbewussten zugewandt: „Mir schien unter anderem, ich vermöge mit dem Bleistift träumerischer, ruhiger, behaglicher, besinnlicher zu arbeiten, ich glaubte die beschriebene Arbeitsweise wachse sich für mich in einem eigentümlichen Glück aus.“
Nie beeindruckte mich die sentimentale Idee, so Walser, man könnte mich für artistisch irregegangen halten.